Eine extreme Frühgeburt bei Zwillingen. Wenn die Hoffnung gering ist, fangen die Wunder an. So manche Geschichte ist doch faszinierend:
In einer so großen Klinik sieht man viel. Man ist Kummer gewohnt und legt sich ein dickes Fell zu. Ich möchte nicht behaupten, dass man abstumpft oder eine Gleichgültigkeit entwickelt, aber ein gewisser Selbstschutz ist in diesem Beruf manchmal überlebensnotwendig. Und so versucht man Schicksal nicht allzu nah an sich heranzulassen. Versucht professionell zu bleiben und möglichst neutral. In diesem Fall waren jedoch all diese Vorsätze und Schutzmechanismen vergessen. Es war still bei der Übergabe im Besprechugnsraum, die meisten hatten einen Kloß im Hals. Frauenärzte und Kinderärzte saßen zusammen. „Was möchte die Patientin?“ - „Alles was möglich ist… sie weiß um die Prognose der Kinder...“
Sie wurde uns notfallmäßig eingewiesen. Schon den Überweisungsschein zu lesen bescherte einem eine Gänsehaut: „21. Schwangerschaftswoche mit Fruchtblasenprolaps.“ Die Untersuchung bestätigte es. Die Fruchtblase war bereits in der Scheide sichtbar. Kein schützender Gebärmutterhals, kein geschlossener Muttermund. Eines der Zwillinge war lediglich von einem dünnen Häutchen Fruchtblase umgeben, was sie von der Außenwelt und dem sicheren Tot der beiden Kinder schützte. 21. Schwangerschaftswoche ist zu früh. Fast zu früh für alle Maßnahmen, die wir medizinisch ergreifen könnten. Erst ab der 24. Schwangerschaftswoche kann man die Lungen der Kinder unterstützen. Erst dann schreibt man CTGs, erst dann könnten wir Medikamente geben, die den Druck aus der Gebärmutter nimmt. Jetzt können wir nur eine Maßnahme ergreifen. Eine notfallmäßige Cerclage, ein Muttermundsumschlingung. Ein großes Risiko bei diesem Befund. Zum einen das dünne Häutchen zu verletzen, welches die Kinder noch alleinig vor dem sicheren Tot schützt, zum anderen ohne Abstrichbefund zu operieren. Sollte man Keime mit „einnähen“, können diese die Fruchtblase zersetzen und es kommt ebenfalls zum vorzeitigen Blasensprung. Der Patientin wurde alles so ausführlich wie nur möglich beschrieben und erklärt, sie ist sich der Prognose und der kaum vorhandenen Chance auf Erfolg bewusst, doch sie möchte alles. Möchte kämpfen. Und wir möchten mit ihr kämpfen.
Die Operation glückt. Die Cerclage sitzt und hält. Etwas Zeit wurde gewonnen. Zeit, die wir zum Reden mit der Patientin nutzen. Die Kinderärzte reden. Die Prognose bleibt trotz Erfolg der Operation sehr schlecht. Die Lungen der Zwillinge sollte und kann man erst in zwei Wochen unterstützen. Und selbst dann stehen die Chancen nicht gut. Die Frauenärzte reden. Eine Wehenhemmung kommt noch nicht in Frage. Die Patientin muss absolute Bettruhe einhalten. Darf ihre Notdurft anfangs nur im Bett verrichten. Sie braucht durchgehend Antibiotika, damit sich im Bereich der Cerclage keine Infektion ausbreiten kann. Ihre Entzündungswerte im Blut sind bereits erhöht. Für die Patientin beginnt eine Zeit des Wartens, hoffen, bangen und kämpfen. Eine Woche. Das Abstrichergebnis ist da. Es ist tatsächlich ein Keim in der Scheide und wir müssen das Antibiotikum wechseln. Zwei Wochen. Immer wieder kommt es zu vaginalen Blutungen und Kontraktionen, die Entzündungswerte bleiben erhöht. Drei Wochen. Die Patientin fühlt sich körperlich zwar besser, aber das viele Liegen und der Bewegungsmangel machen sich langsam bemerkbar. Krankenhauskoller. Sie möchte nach Hause, möchte gehen. Will diese Klinik verlassen. Wir verstehen, wir reden, wir versuchen die Notwendigkeit deutlich zu machen. Ohne Antibiotikum, ohne Therapie kann es zu Frühgeburt kommen und alles wäre umsonst gewesen. 23 + 2 Schwangerschaftswoche. Immer noch zu früh für eine Therapie der Kinder. Doch die Patientin ist eine Kämpferin. Hat ihren eigenen Willen und verlässt gegen ärztlichen Rat die Klinik. Wieder Gänsehaut in der ganzen Klinik.
Zwei Tage später kommt sie wieder. Verstärkte Blutungen, vorzeitige Wehen. Die Cerclage ist belastet, die Entzündungswerte in die Höhe geschossen. Wir ergreifen alle Akutmaßnahmen und führen am nächsten Tag eine Lungenreifebehandlung durch. Wehenhemmung, Antibiotikum, Flüssigkeit. Jetzt kämpfen wir. Die ersten CTG’s werden 23 + 6 geschrieben. Zum ersten Mal hört die Patientin den vertrauten Galopp ihrer Kinder. Es besteht fast so etwas wie Erleichterung und Freude bei allen Beteiligten, doch darf man nicht vergessen, dass wir alle weit weg von der Rettung der beiden Kinder sind. Wieder folgen Gespräche mit Kinderärzten und Frauenärzten. Ein Zwilling reagiert unter den vorzeitigen Wehen im CTG. Die Herztöne fallen für kurze Zeit ab. Regelmäßig. Es kommt zur Entscheidung. Wir müssen die Kinder jetzt holen. Die Patientin ist genau in der 24 + 0 Schwangerschaftswoche. Punktlandung. Der Kaiserschnitt gelingt ohne Komplikationen. Die Kinder sind winzig und zerbrechlich. Eines schreit. Neben all den Schreien im Kreißsaal klingt dieser Laut eher wie ein Quieken. Der andere Zwilling lebt, scheint geschockt. Geschockt vom frühen Leben. Ein Leben mit all den Schwierigkeiten. Doch zunächst scheinen die Probleme belanglos. Atmen, Wärmehaushalt, essen. Für die beiden Höchstleistung.
Wir übergeben die Kinder sofort an die anwesenden Kinderärzte. Wir haben gekämpft! Mit der Patientin, für die Patientin, für die Kinder… wir sind fertig. Sie noch lange nicht. Jetzt kämpfen die Kinder, jetzt kämpfen die Kinderärzte. Um das Überleben der beiden Mädchen.
NACHTRAG 6 MONATE SPÄTER
Es geht ihnen gut. Ihnen allen! Sie machen sich prächtig. "mnw" steht im Verlauf der Kinderärzte. Eine gute Abkürzung. "Müssen noch wachsen". Mehr nicht. Keine Medikamente, keine Operationen, einfach nur wachsen. Auch das schaffen sie. Die Kinderärzte haben gekämpft und es hat sich gelohnt. Die Frauenärzte sind fertig, die Kinderärzte sind fertig. Eine Familie kämpft weiter... doch der Kampf ist längst zu einem Geschenk geworden. Viel Glück und alles Liebe Familie B.
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